„Noch ist die blühende Zeit . . .”

Novellette von Paul Bliß.
in: „Stralsundische Zeitung, Sonntagsbeilage” vom 09.08.1896


Nachmittag vier Uhr.

Fräulein Lena Hellwigs Privatschule wurde geschlossen. Die zehn kleinen Mädchen liefen jubelnd nach Hause. Und die Inhaberin und einzige Lehrerin des kleinen Instituts war allein. Sie öffnete alle Fensterflügel, daß die lachende Junisonne in breiten Wogen hereinfluthete, dann nahm sie ihre paar Lehrbücher und ging hinaus in den Garten, wo die alte Hanne, ihre treue Magd, bereits den kleinen Kaffeetisch gedeckt hatte.

Es war ein wunderherrlicher Junitag. Der kleine Garten stand in üppiger Blüthe, und süßer Düfte war die Luft voll.

Ermüdet und abgespannt ließ sich das Fräulein in dem Korbstuhl nieder und gab sich der wohlverdienten Ruhe und Erholung hin, wie träumend schloß sie einen Augenblick die Augen.

Und ein lauer Windhauch kam und wehte ihr Kühlung zu und spielte schmeichelnd und kosend mit den blonden Löckchen, und ganze Wogen schwerer Düfte wehte er heran, denn die Rosen standen in der ersten Blüthe.

Ein Lächeln flog über ihr jugendliches Gesicht, ein stilles, glückselig zufriedenes Lächeln, und leise, fast hauchend, flüsterte sie: „Noch sind ja die Tage der Rosen.”

Da kam die alte Hanne und brachte den Kaffee.

Das Fräulein fuhr leicht zusammen, aber sie beherrschte sich und meinte dann leichthin: „Es ist gut, Hanna, wenn der Herr Amtmann kommt, dann führe ihn hierher, er wird wohl das Schulgeld für sein Mariechen bringen wollen.”

Die alte Hanna nickte nur, aber ganz heimlich lächelte sie doch, — sie wußte, weshalb der Herr Amtmann so oft kam.

Als Fräulein Lina wieder allein war, stand sie auf und ging hin und her, um ihre Ruhe wiederzufinden.

Fast hörbar laut klopfte ihr Herz. Sie ahnte, was der Amtmann heute wollte. Längst hatte sie es ja gemerkt, daß sie ihm nicht gleichgültig war. Seine vielen Besuche, für die er immer einen neuen Vorwand ersonnen hatte, seine vielen kleinen Aufmerksamkeiten und Artigkeiten, — oh, sie wußte genau, war er nun von ihr wollte, denn gestern schon hatte er Andeutungen gemacht.

Ganz ruhig überlegte sie nun — — —

Er war sechsunddreißig Jahre. Seine Verhältnisse waren glänzend. Aus der ersten Ehe war nur ein Kind, ihre Schülerin Mariechen. Er war ein stattlicher Mann, gutherzig und gebildet, und er liebte sie. Das Alles wußte sie. Er war eine sogenannte glänzende Partie für sie, das arme Lehrfräulein, die allein und verwaist dastand. Tausende beneideten sie um dies Glück. Und dennoch krampfte sich ihr das Herz zusammen, wenn sie daran dachte, daß sie seine Frau werden sollte.

Sie liebte einen Andern, aber dieser war drei Jahre jünger wie sie, und er schien es noch immer nicht zu merken, wie innig sie ihn liebte.

Wieder schloß sie die Augen und träumte ein paar selige Minuten von ihrer Liebe, — und wieder kam der laue Windhauch und wehte ihr Düfte, süß und schwer, entgegen, — und wieder flüsterte sie leise: „Noch ist die blühende Zeit . . .”

Da hörte sie die Gartenpforte knarren. Schnell richtete sie sich auf. Er kam. Jetzt galt es, stark zu sein.

Langsam und tief grüßend kam er näher.

„Und ich störe Sie auch nicht, liebes Fräulein?”

„Gewiß nicht, Herr Amtmann. Vielleicht trinken Sie noch eine Tasse Kaffee mit mir?”

„O, Sie sind sehr liebenswürdig, Fräulein.”

Sie nahmen gegenüber Platz. Die alte Hanne brachte noch eine Tasse. Dann redeten sie ein paar Sätze über gleichgültige Dinge. Jeder wollte vor dem Andern seine innere Erregtheit verbergen. Und dann ülötzlich trat eine Pause ein, sekundenlang und schwül.

„Jetzt, jetzt!” dachte sie nur, „jetzt würde er sprechen.”

Und richtig, jetzt begann er, in kurzen Sätzen, zögernd, fast stockend. Athemlos hörte sie ihn an.

„Liebes Fräulein, ich kann keine schönen Worte drechseln, — Sie selbst werden ja längst gemerkt haben, was Sie mir sind, — na, und jetzt bitte ich Sie herzlichst, werden Sie meine Frau.”

Purpurübergossen saß sie da und schwieg. Das Blut jagte nur so durch ihre Adern. Gern hätte sie gesprochen. Aber die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Roth und verlegen wie ein Backfisch saß sie da.

Da begann er wieder und diesmal schon mit mehr Sicherheit: „Sehen Sie, liebes Fräulein, ich weiß ja, daß ich Ihnen das himmelhohe Glück der stürmenden Jugend nicht mehr bringen kann, ich weiß ja auch, daß ich ein alter Egoist bin und nur an mich zuerst denke, aber glauben Sie mir, Fräulein Lina, ich werde Ihnen das Leben so leicht und angenehm machen, daß Sie doch glücklich werden, und ich will ja nur ein wenig von Ihnen geliebt werden, nur ein bischen Sonnenschein sollen Sie in mein einsames Leben bringen.” Bittend sah er sie an.

Und jetzt fand sie Worte.

„Lieber Herr Amtmann, — ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll, — das Alles kommt so plötzlich, so unvorhergesehen über mich —”

„Aber liebes Fräulein,” sprach er bestürzt dazwischen, „Sie haben nie gemerkt, wie lieb ich sie gewonnen habe!?”

Nun schämte sie sich ihrer Nothlüge. Sie wurde wieder roth und die Verlegenheit nahm zu. Endlich aber raffte sie sich auf, gab ihm die Hand und sagte mit zitternder Stimme: „Ich bitte Sie, lieber Herr Amtmann, lassen Sie mir Zeit, — ein paar Stunden, — einen Tag, ich bitte Sie darum!”

Schwermüthig nickte er nur. Dann, mit einem verlegenen Lächeln, antwortete er: „Ich werde warten, bis Sie mich rufen, Fräulein Lina.” Dann ging er grüßend fort.

Als sie allein war, athmete sie auf, wie befreit. — — — Nun war es vorüber. Im Grunde that er ihr ja leid. Aber wennschon sie ihn auch gern leiden mochte und ihn hochschätzte, sein Weib werden konnte sie nicht, gewiß nicht! Denn Liebe empfand sie keine für ihn.

Jetzt war sie wieder ganz frei. Sie lachte ordentlich laut auf, blos um sich lachen zu hören. Und dann freute sie sich über ihr lustiges Lachen. Sie sang und sang immerzu. Und die lauen Winde wehten wiederum endlose Wogen süßer Düfte heran und wiederum sang sie — diesmal aber laut und fröhlich —: „Noch ist ja die blühende Zeit — — —”

Um sechs Uhr kam ihr Freund, der Prokurist Walter. Wie immer brachte er auch heute einen Strauß duftender Rosen mit.

Lachend sprang ihm das Fräulein entgegen: „Etwas Neues habe ich für Sie, Herr Walter!” rief sie.

Erstaunt kam er näher und sah sie fragend an.

„Rathen Sie einmal!”

„Ja, das ist nicht so leicht, liebes Fräulein.”

„Sie werden mich verlieren,” rief sie scherzend.

„Fräulein Lina —”

Und übermüthig lachend sprach sie weiter: „Ja, ja, ich habe einen Antrag bekommen, eine glänzende Partie! Na, was sagen Sie jetzt?” In athemloser Spannung beobachtete sie die Wirkung ihrer Worte.

Er aber stand da, stumm und bleich, und sah sie fragend an. Endlich fragte er: „Und haben Sie Ja gesagt?”

„Nein,” sagte sie nur, über und über erröthend.

„Ach, ich danke Ihnen, Fräulein Lina!” rief er da jubelnd aus, reichte ihr beide Hände hin und sah sie mit lodernden Augen an.

Zitternd fragte sie: „Und ich sollte Nein sagen?”

Er nickte nur, aber zugleich auch riß er sie an sich, nahm ihren bebenden Körper in seine Arme und küßte sie auf Mund und auf Augen mit wilden glühenden Küssen.

Und glückselig lag sie in seinen Armen und vergaß Alles, Alles ringsum, nur den Duft der blühenden Rosen empfand sie noch immer, wonnig und wohlig.

Sie waren verlobt, stillschweigend.

Am nächsten Tage schrieb sie dem Amtmann einen lieben, zartfühlend gehaltenen Brief, und damit war der Gedanke an den lieben Herrn für immer vergessen.

Eine wonnevolle Zeit begann. Jeden Tag kamen die Liebenden zusammen. Und mit jedem Tage wurde das Glück schöner und größer. Endlich wurden Pläne für die Zukunft gemacht.

Er beschloß, daß sie nach der Hauptstadt ziehen wollten, dort sei ihm eine Stellung angeboten, die ihm ein doppelt so hohes Einkommen brachte, als er es hier bezog. Und zwar wollte er sogleich dahin übersiedeln, damit er sich einleben könne in seine neue Stellung, um dann, wenn er firm sei, sie nachkommen zu lassen. Dann sollt Hochzeit gefeiert werden.

Natürlich war sie einverstanden. Sie liebte ihn mit so ganzer Hingebung, daß sie in Alles einwilligte, was er vorschlug.

So zog er eines Tages fort nach der Hauptstadt. Und sie blieb allein.

Trübe Tage begannen nun. Anfangs zwar kam regelmäßig jeden dritten Tag ein Brief für sie. Und alle Briefe waren mit warmen Liebesworten geschrieben. Dennoch aber merkte sie, daß die neue Stellung ihm gar nicht behagte. Er fühlte sich nicht nur nicht wohl, sondern er war einfach enttäuscht. Man hatte ihm Hoffnungen gemacht, die nie erfüllt werden konnten. Eines Tages gab er die Stellung auf, da er die endlosen Schikanen des Chefs nicht länger mehr ertragen konnte. Und nun mußte er eine Stellung annehmen, die ihm noch weniger Einkommen bot, als er es früher in der kleinen Stadt hatte, nur um sein Dasein zu fristen.

An eine Heirath war somit vorerst nicht zu denken.

Sie war betrübt, aber sie ertrug auch das, denn ihre Liebe ließ keinen Zweifel an seinem Wort aufkommen.

Ubd dann wurden seine Briefe immer seltener. Er habe so viel zu thun, er sei todtmatt, wenn er heimkomme, und viele andre Ausreden erfand er.

So verging ein Jahr.

Seine Nachrichten wurden immer spärlicher, oft kam wochenlang kein Brief. Längst war das Innige, Liebevolle einem kühlen, geschäftsmäßigen Tone gewichen, oft auch wurden herbe Worte geschrieben, Klagen über Zwang und Fessel und versteckte Sehnsucht nach der verlorenen Freiheit.

Ohne Klagelaut, mit stiller Resignation ertrug sie Alles. Längst hatte sie gefühlt, daß er ihr verloren war. Nun fühlte sie erst, daß sie zu alt für ihn war.

Und dann eines Tages kam der Brief, in dem er sie bat, ihm sein Wort zurückzugeben, — er könne ihr Schicksal nicht an das seine fesseln, denn er sei nicht imstande, ihr eine sorgenlose und gesicherte Zukunft zu bieten.

Da gab sie ihn frei, mit liebevollen Worten nahm sie Abschied von ihm, dankte ihm für alles Gute und für all die Liebe, die er ihr geschenkt hatte, und wünschte ihm Glück für die Zukunft, nicht ein Wort der Anklage oder einen Vorwurf hatte sie für ihn, sie selbst nahm alle Schuld auf sich.

Als aber der Brief fort war, da sank sie zusammen und weinte und schluchzte und versank in dumpfes, stundenlanges Brüten, — sie hatte ihre Jugend, ihre Hoffnung, ihr Glück, ihr Alles, Alles begraben; — noch immer blühten die Rosen, noch immer war die Luft voll von süßen schweren Düften, ihr aber hatten sie ausgeblüht, ihr waren die Tage der Rosen dahin, vergangen, gewesen. — —

Stille, trübe Tage begannen jetzt für sie. Doch nie kam ein Wort der Klage über ihre Lippen. Tapfer ertrug sie ihr selbstgewähltes Loos. Ihr einziger Trost war ihre Arbeit. Ihren kleinen Schülerinnen war sie nicht nur die Lehrerin, sie wurde ihnen eine liebe mütterliche Freundin.

Da erkrankte einmal das kleine Mariechen, des Herrn Amtmanns Tochter.

Der Vater war untröstlich. Er that, was er konnte, seinen Liebling zu retten. Auch eine barmherzige Schwester sollte kommen, die Kleine zu pflegen.

Mariechen aber, an die liebevolle Fürsorge Fräulein Linas gewöhnt, wollte nur diese um sich haben.

Und so kam das Fräulein in das Haus des Herrn Amtmanns.

Bange schwere Wochen vergingen. Der Vater und das Fräulein durchwachten manche furchtbare Nacht am Lager der kleinen Schwerkranken.

Und in dieser Zeit der Angst und der Sorgen war auch das Fräulein dem Amtmann näher gekommen, und als er jetzt noch einmal seine Werbung wiederholte, da sagte sie nicht mehr nein, sondern wurde sein liebes Weib und der Kleinen eine treue, fürsorgende Mutter.

Und als die Tage der Rosen wiederkamen, da hatte die Welt drei glücklich zufriedene Menschen mehr.

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